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Rückenschmerz ganzheitlich betrachtet

Rückenschmerz ganzheitlich betrachtet

04-12-17

In unserer westlichen Welt werden Schmerzen immer mehr zum Problem für den Einzelnen und zur Herausforderung für Volkswirtschafen und Sozialsysteme. Insbesondere Rückenschmerzen zählen auf Grund ihrer starken Verbreitung in allen Bevölkerungsschichten zu den Hauptursachen für Arztbesuche, Diagnosestellungen und therapeutische Interventionen. 

Beinahe jeder dritte Erwachsene hat öfter oder ständig Probleme mit dem Rücken. Nach klassischer Vorstellung gehören vor allem Veränderungen und Verschleiß von anatomischen Strukturen wie Bandscheiben, Facettengelenke oder der mit Nerven durchzogenen Sehnen und Bänder zu den Auslösern von chronischen Schmerzen. Diesem wohl etwas vereinfachten biomechanischen Modell zufolge, sind diese hauptsächlich auf funktionelle Überbelastungen durch Übergewicht, langes Sitzen, Fehlhaltungen oder exzessiven Sport zurückzuführen. Das Wissen über die Auswirkungen von neuro-motorischen Störungen der, die Wirbelsäule stabilisierenden Rumpfmuskulatur (englisch "core") leistet zwar einen wichtigen Beitrag zum besseren Verständnis von Schmerzphänomenen, doch herrscht nach wie vor Unklarheit über das Entstehen von Schmerzsymptomen, vor allem dann, wenn keine anatomischen Veränderungen festzustellen sind. Auch gibt es kaum allgemeingültige Indikationen bezüglich der besten Behandlungsstrategien.

Doch, wenn man Rückenschmerzen nicht als ein isoliertes Krankheitsbild, sondern als "Komorbidität“ betrachtet, ergeben sich völlig neue Sichtweisen. Der Begriff bezieht sich auf Erkrankungen und Beschwerden, die auf unterschiedliche physiologische Ebenen (Struktur, Stoffwechsel, Psyche) auftreten. Daher gilt es Zusammenhänge zu erkennen und unsere Untersuchungen über den Schmerzbereich hinaus zu erweitern. Denn häufig beklagen Betroffene nicht nur den Rückenschmerz, sondern sie leiden auch unter anderen Beschwerden, die sich nicht direkt mit dem Rücken in Verbindung bringen lassen, wie diffuse Schmerzen und Verspannungen, Verdauungsstörungen, Ängste, Schlaflosigkeit oder Stimmungsschwankungen. Manche fühlen sich auch einfach nur müde und kraftlos.

Dies ist wohl die Erklärung dafür, warum ganzheitliche Methoden wie Yoga oder Akupunktur häufig einen höheren Behandlungserfolg aufweisen als klassische therapeutische Maßnahmen – eine Tatsache die inzwischen durch zahlreiche medizinische Studien belegt ist.

Durch einen Paradigmenwechsel und die Überwindung eines auf Symptomunterdrückung ausgerichteten medizinischen Modells, gelangen wir zur Erkenntnis, dass Rückenschmerzen häufig auf Funktionsstörungen hinweisen, die nicht in einem ausschließlich orthopädischen Rahmen behandelt werden sollten, sondern auch gastroenterologisch (z.B. bei Reizdarm-Syndrom), gynäkologisch (bei Endometriose), rheumatologisch (bei Fibromyalgie) oder psychologisch (bei Ängsten und Depressionen).

Unser Interesse gilt auch dem Zusammenhang zwischen Rückenschmerzen und den ebenso stark verbreiteten Magen-Darm-Beschwerden. Die Rolle, die das sogenannte Mikrobiom – also die Gesamtheit der Bakterien die in symbiotischer Koexistenz unseren Organismus besiedeln – für unsere Gesundheit spielt, zählt schon seit längerer Zeit zu den aufregendsten Forschungsgebieten der Medizin. Heutzutage verfügen wir über unterschiedliche Diagnoseverfahren, die es uns erlauben durch einen einfachen Test den Status der Mikroflora im Darmtrakt zu erfassen. Werden die Messergebnisse in eine personalisierte klinische Untersuchung integriert, ergeben sich innovative, auf kausale Zusammenhänge ausgerichtete Behandlungsstrategien, die sich auf die Stärkung des allgemeinen Wohlbefindens ebenso konzentrieren wie auf die Gesundheit des Rückens. Denn das therapeutische Ziel ist neben der Schmerzbeseitigung auch die Heilung oder Linderung von Beschwerden, die den Patienten oft gar nicht bewusst sind. Dazu gehören beispielsweise  Bluthochdruck, ein erhöhter Cholesterinspiegel, oder eine schwache Verdauung.

 

Dr. Med. Sergio Veneziani, Facharzt für Chirurgie, Orthopädie und Traumatologie